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Sonntag, 9. Juni 2013

Funktion und Dysfunktion der Sendung MDR Brisant für die Gesellschaft

Welche gesellschaftliche Funktion hat die stereotype Berichterstattung über Abweichungen von der Normalität (Verbrechen, Unfälle, emotionszentrierte Opferdarstellung). Wo sind diese Funktionen verortet?

Kommunikationswissenschaftliche und medienethische Betrachtungen einer Form von Boulevardjournalismus.
MDR Brisant.

Stellen Sie sich vor, sie befinden sich auf einem Leuchtturm.
Ganz oben auf dem Laternendeck.
Dieser Leuchtturm ist umgeben von der tosenden Wucht eines wütenden Ozeans.
Wellen brechen einen Meter unter Ihren Füßen.
Sie stehen trocken und warm.
Sie sind ruhig.
So ruhig wie der Leuchtturm.
Sie wissen, dieses Gebilde übersteht jeden noch so wütenden Brecher.
Sie sind sicher.
Draußen, um Sie herum
die todbringende See.
Gelegenheit, die Schönheit des Schreckens zu genießen und
wohlig zu schaudern.

Philosophen verwenden für diesen Zustand des menschlichen Empfindens den Begriff der Erhabenheit.

In Zeiten der Massenmedien müssen wir uns nicht auf Leuchttürme mühen, um dem Schrecken der Welt zu begegnen,
angewidert und fasziniert zugleich –
von Gewalt, Tod, Unglück, Schicksal… Spott.
Die tägliche Lust am Schrecken.
Das lustvolle Unwohlsein erhalten wir
im TV.
MDR Brisant.

Kindsmorde, tödliche Familiendramen, folgenschwere Unfälle auf Landstraßen und imposante Gebäudebrände (Fabriken, Scheunen, Wohnhäuser).

Die Aufzählung erfolgte der Vorstellung der Brisant-Redaktion, wie hoch der Wert eines Nachrichtenthemas ist.
Das Wichtigste zuerst.
Leid.

So konnte beispielsweise ein Schlangenbissopfer in der Sendung vom 3. Mai 2013 über ihre Todesangst sprechen.
Außerdem wurden ebenfalls an diesem Tag in MDR Brisant dramatische Sekunden [sic] beschrieben, in denen ein Mordopfer im Keller einer Kirche aufgefunden worden ist. Eine Frau. Wer tut so etwas? Erschlagen vom Ehemann.

Man täte der Sendung unrecht, erwähnte man nicht die andere Hälfte des Sendekonzepts. Es hat auch Promi-News. Lifestyle, wenn man so will.
In dieser Rubrik werden Archivbilder bekannter Persönlichkeiten mit aktuellen Gerüchten montiert.

Boulevardjournalismus.


Sowohl Schrecken und Unglück, als auch Lifestyle (Klatsch und Tratsch) sind Teile dieses gesellschaftlich relevanten sinnkonstruierenden Textsystems.

Typisch für diese Form von Berichterstattung ist die Marginalisierung politischer und wirtschaftlicher Themen.
Meint: Politische Berichterstattung erfolgt hier nicht.
Politiker erscheinen nur, wenn es nicht um Politik geht.
Z.B. Christian Wulffs Trennung von seiner Frau Bettina.

MDR Brisant ist eine Sendung, die über das Massenmedium Fernsehen verbreitet wird.
Folgt man Burkart, so haben Massenmedien unterschiedliche Funktionen für die Gesellschaft.
Abgesehen von der sehr allgemeinen Informationsfunktion, seien drei konkretere aufgeführt:
die soziale,
die politische und
die ökonomische Funktion.

Man kann durchaus behaupten, der Boulevardjournalismus von MDR Brisant habe gesellschaftsrelevante Funktionen.
Wenn auch keine politische, dann doch ökonomische.
Immerhin ist diese Sendung zwischen die seltenen Werbeblöcke der ARD gesetzt. Sie muss Quote bringen.
Über solche Einnahmen werden unter anderem Journalisten bezahlt, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk sonst möglicherweise an private Sender verlieren würde.
Hier sind also die öffentlich-rechtlichen Mechanismen vollständig ausgeschaltet.

Und die soziale Funktion?

In diese Kategorie fällt die Vermittlung von
Rollenverhalten, Normen und gesellschaftlichen Werten.
Diese Funktion kann weiter unterteilt werden in Sozialisations-, Orientierungs-, Rekreations- und Integrationsfunktion.

Sozialisationsfunktion

Nach Hess führen Medien eine Sozialisierung und Stärkung des Normbewusstseins herbei.
Mit anderen Worten,
Medien bilden,
helfen den Menschen, das zu werden, was sie sind.
Unweigerlich,
subtil.

Da allerdings, die immer wiederkehrenden Muster der Berichterstattung in oben angeführter Rangfolge von Leid erfolgt, muss davon ausgegangen werden, dass bei regelmäßiger Rezeption dieser Sendung beim Zuschauer ein grob verzerrtes Bild der Realität erzeugt wird. Es stehen hier nicht etwa Verfehlungen öffentlicher Ämter oder gesellschaftlicher Gruppen in Kritik, wenn MDR Brisant über ein zu Tode gekommenes Kind berichtet,
sondern der menschliche Abgrund.
Der des Täters
und der von Betroffenen.
Aus dem Aspekt von Sozialisation kann dieser Sendung eine Dysfunktionalität für die Gesellschaft unterstellt werden.
Das wäre nicht schädlich für die Gesellschaft.
Die Sendung hat nur eben keine Funktion.
Ist irrelevant.

Allerdings sollte auch die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass der erste Teil der Sendung vielleicht sogar als gewalthaltig einzustufen ist.
Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass die Wahrnehmung von Gewalt subjektiv unterschiedlich ist. Sie folgt keiner Festlegung offizieller Ämter, sie wird individuell empfunden.

Was fühlen Kinder, die die Symbolik verdrehter Autowracks und verstreuter persönlicher Dinge wie Schuhe und Teddys auf Asphalt verstehen?
Sie empfinden diese Frage als übertrieben?
Die vom MDR produzierte Sendung Brisant beginnt werktags 17:15 Uhr, in der ARD.

Eine weitere soziale Funktion der Massenmedien ist die der

Orientierung.

Wie verhalten sich bekannte Persönlichkeiten in bestimmten Situationen?
Prominente Menschen haben eine Vorbildfunktion.
Egal, ob positives oder moralisch fragwürdiges Verhalten gezeigt wird, durch die Bewertung der Brisant-Redaktion kann auf Moral oder Unmoral hingewiesen werden. Diese Aufgabe wird auch wahrgenommen. Die Redaktion nimmt dadurch ihre Kritik- und Kontrollfunktion war.

Wie aber kann man den Schrecken in der ersten Hälfte der Sendung einer gesellschaftsrelevanten Funktion zuordnen?

Über die

Integrationsfunktion?

Integrationsfunktion bedeutet, dass Medien gesellschaftlich anerkannte Verhaltensweisen und -normen vermitteln sowie Loyalität in der Gesellschaft für diese sozialen Normen herstellen.

Man kann allerdings davon ausgehen, dass die bei Brisant gezeigten Auswirkungen von Normverletzungen vom Publikum bereits als solche wahrgenommen werden.
Jeder weiß, dass man nicht alkoholisiert Auto fahren sollte und jeder weiß: Du sollst nicht töten!

Gezeigt werden also Brüche bekannter und allgemein anerkannter Normen.
Und ein Großbrand stellt auch nicht unbedingt eine Normverletzung dar,
es sei denn,
es kann ein Brandstifter präsentiert werden.
MDR Brisant zeigt also eher schreckliche Ereignisse,
emotional gefärbt,
in bildhafter Sprache („Es sind Bilder wie in einem Krimi…“),
ohne jedoch eine Integrationsfunktion zu erfüllen.

Rekreationsfunktion?

Wieso nicht?
Rekreationsfunktion der Medien meint, sich mithilfe der Medien erholen, neue Energie tanken.
Sich ablenken.
Lesen, Musik hören,
Filme schauen,
z.B. Horrorfilme.
So manche/r kann sich bei einem Horrorfilm entspannen.
Die Fiktion solcher Filme lässt den Zuschauer für eine gewisse Zeit den Alltag vergessen.
Dabei muss ja kein (Film)Blut fließen.
Keine Hirnmasse aus dem Schädel quellen.
Nur die Ahnung um die Möglichkeit eines grausamen Endes eines Menschen.
Allein die Aktivierung von Urängsten verursacht ein Schaudern.
Die typische Wirkung dieses Genres.
Weil es möglicherweise tragisch endet.
Das Leben.

Zuschauer, die solche Fiktionen nicht mögen, entspannen bei anderen Sendungen,
z.B. bei MDR Brisant.
Hier wird auch gestorben.
Hat natürlich eine andere Qualität.
Ist der Beweis, dass die Welt tatsächlich schrecklich ist.
Man kann die, durch Horror verursachte innere Anspannung mithilfe von Betroffenheit kanalisieren.
Und genießen.
Mit diesem großartigen Gefühl der Erhabenheit.

Literatur


*Onlinequelle ist nur über eine Mitgliedschaft wiss. Bibliotheken erreichbar.

Bohlken, E. (2011): Die Verantwortung der Eliten: Eine Theorie der Gemeinwohlpflichten: Campus Verlag GmbH. http://books.google.de/books?id=gbiLBqhl5JEC.

Burkart, Roland (2002): Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder ; Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft. 4. Aufl. Wien [u.a.]: Böhlau (UTB, 2259).

Früh, Werner (1995): Die Rezeption von Fernsehgewalt : eine empirische Studie zum wahrgenommenen Gewaltpotential des Fernsehprogrammangebots durch verschiedene Zielgruppen. In: Media Perspektiven (4), S. 172–185.

Glathe, C. (2010): Glathe, Web 2.0: VS Verlag für Sozialwissenschaften GmbH.
http://books.google.de/books?id=4uXcW6lsdgcC.

Hess, Henner (1969): Ein soziologischer Bezugsrahmen für die Massenkommunikationsforschung. In: Publizistik (3), S. 277–286.

Park, K.H (2009): Kant über das Erhabene: Rekonstruktion und Weiterführung der kritischen Theorie des Erhabenen Kants: Königshausen & Neumann. http://books.google.de/books?id=1kGccEtq1XAC.

Renger, Rudi (2000): Populärer Journalismus. Nachrichten zwischen Fakten und Fiktion. Innsbruck: Studienverlag (Beiträge zur Medien- und Kommunikationsgesellschaft, 7).

Schenk, Michael (2007): Medienwirkungsforschung. 3. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck.

Virchow, Fabian (2008): „Fordern und Fördern“ Zum Gratifikations-, Sanktions- und Gerechtigkeitsdiskurs in der BILD-Zeitung. In: Ulla Wischermann (Hg.): Medien - Diversität - Ungleichheit. Zur medialen Konstruktion sozialer Differenz. 1. Aufl. Wiesbaden: VS, Verl. für Sozialwiss. (Medien - Kultur - Kommunikation), S. 245–262.

Vlašić, A. (2004): Die Integrationsfunktion der Massenmedien: Begriffsgeschichte, Modelle, Operationalisierung: VS Verlag für Sozialwissenschaften. http://books.google.de/books?id=vKNlDRz4m4YC.

Vossen, Ursula (Hg.) (2012): Filmgenres: Horrorfilm. Stuttgart: Reclam. *http://sub-hh.ciando.com/book/?bok_id=468414.

Freitag, 3. Mai 2013

Das Leben ist...

Brisant!


Kennen Sie den Film „50 erste Dates“ mit Drew Barrymore und Adam Sandler?
Drew Barrymore spielt eine Frau (Lucy Withmore) mit Gedächtnisverlust nach einem Unfall, dieser Unfall ist schon ein bisschen her. Doch seit dem vergisst sie jede Nacht den vorangegangenen Tag. Henry Roth (Adam Sandler) verliebt sich in sie. Eine romantische Komödie mit Happy End.
Zugegeben, etwas kitschig.
Eigentlich begeistert mich weniger der Plot, sondern die Idee des Films: Ein Mensch muss sich jeden Tag aufs Neue um die Person bemühen, die er liebt. Jeden Morgen, wenn Lucy Withmore erwacht, ist ihr Gedächtnis bis zu einem Punkt in ihrem Leben ausgelöscht. An keinem Morgen kann sie sich an Henry erinnern. Aber dieser Typ im Film – Henry – schafft es stets aufs Neue, dass sich die Frau seines Herzens innerhalb eines kurzen Tages in ihn verliebt.
Jeden Tag!
Weil er sich um sie bemüht. Jeden Tag.

Wie ist das bei Ihnen?
Der Alltag verlangt uns einiges ab:
Termine = Hektik.
Ereignisse = Schrecklich.
Es scheint nichts Schönes in der Welt vor sich zu gehen – jedenfalls hört man nichts davon.
…in den Nachrichten.
Bomben im Irak.
Massenvergewaltigung in Indien.
Ein Politiker rülpst.
Ein Dachstuhl brennt. Wir sind live dabei.
Fragen wir die Witwe eines Toten: Wie konnte es dazu kommen?
Sie weiß es nicht.
Weint.
Hätten wir uns denken können.
Tränen gehören zum Geschäft.

Es ist nicht einfach, den Leuten jeden Tag etwas Aufregendes zu präsentieren.
Mann beißt Hund.
What’s different?

Ausstellungseröffnung gut und schön, aber wenn sich da niemand auszieht...
oder tötet…
oder getötet wird…

Das Besondere zu entdecken, erfordert erheblichen Aufwand.

Die Ereignisse von heute standen schon gestern fest.
Quasi mit der letzten Redaktionssitzung.

In „50 erste Dates“ organisiert Lucys Familie jeden Tag denselben Tag.
Einen möglichen Tag, der dem Tag ihres Unfalls folgt.
Ein Akt von Hilflosigkeit, mit Lucys Situation fertig zu werden.
Doch selbst dieser „Jeder Tag“-Tag im Film hat seine Facetten.
Mit neuen Gesichtern,
Henry
und unterschiedlichen Abläufen.

Das Leben läuft vorwärts, mit seinen Eventualitäten und Neuem.
Jeder Tag ist anders.
Für manche nicht, habe ich das Gefühl.

Die TV-Sendung Brisant gießt das Leben in einen Rahmen. So besteht es aus "Unfällen und Schicksal".

Mit betroffenem Blick werden „grausame Anblicke auf Autobahnen“, „dramatische Bilder aus Prag“ oder „Szenen wie in einem Krimi“ anmoderiert.
Oder Moral gepredigt.
Von Brisant.
Einer Sendung die vom Leid anderer zehrt.
Natürlich nicht nur…

Am 30. April 2013 war Thronwechsel im Niederländischen Königshaus.
Ein Ereignis, das von Brisant ausgiebig gewürdigt wurde.

Beatrix Prinzessin, ihr Sohn König.
Das passiert nicht alle Tage.
Was Außergewöhnliches.

Schon in den Sendungen vor dem großen Ereignis wurde eine ausführliche Berichterstattung dem Publikum angekündigt. Und auch zu Beginn der Sendung geteased. Über Live Schalte nach Amsterdam.
Die Moderatorinnen mit strahlenden Augen und bezauberndem Lächeln, dem Anlass entsprechend festlich gekleidet...
Gleich, gleich gehts los!

Doch zuvor:
Tödlicher Falschfahrer auf der A 81.